Sonntag, 1. Juni 2008

Atomschmuggel und Schweizer Behörden

Artikel aus der Basler-Zeitung vom 17.05.2008
NIKLAUS RAMSEYER, Bern
Auf Druck der US-Regierung und des damaligen Justizministers Blocher ließ der Bundesrat Ende 2007 aus einem laufenden Strafverfahren 100 volle Aktenordner entfernen und vernichten. Die Aktion war ebenso fragwürdig wie nutzlos: In Kopien ist das Dossier weiterhin da.
«Der Fall Tinner ist mir sehr wohl bekannt», antwortet die neue Schweizer Justiz- und Polizei¬ministerin, SVP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, auf Nachfrage der baz: «Wir sind an der Sache dran, aber weil das Verfahren läuft, werden wir erst zu gegebener Zeit und Gelegenheit darüber informieren.»
VON GPDEL BIS CIA. Widmer-Schlumpfs besorgte Miene zeigt dabei, welch übles Erbe sie mit diesem «Fall» von ihrem Vorgänger Christoph Blocher (SVP) hat übernehmen müssen. Denn: An «der Sache» sind seit Jahren noch viele andere «dran». Die eidgenössischen Strafver¬folgungs¬behörden in erster Linie, die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und deren Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) - aber auch der Gesamt¬bundesrat und neuerdings die Geschäfts¬prüfungs¬delegation (GPDeI) der Eidgenössischen Räte.Dieses Gremium, das sich aus je drei Mitglie¬dern beider Räte zusammensetzt und «die Tätigkeit im Bereich des Staatsschutzes und des Nachrichtendienstes überwachen» muss, will jetzt vor allem eines wissen: Warum hat der Bundesrat im letzten Dezember aus dem laufenden Verfahren im «Fall Tinner» bei der Bundesanwaltschaft mehr als die Hälfte der seit Jahren angesammelten Akten und Dossiers abholen und vernichten lassen? Die GPDeI soll den Bundesanwalt Erwin Beyeler schon befragt haben. Beyeler selber lässt ausrichten: «Dazu dürfen wir nichts sagen.» Auch die sechs Kommissionsmitglieder hüllen sich in Schweigen.
Der Fall Tinner. Der zustandige eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller, der das Verfahren mitsamt dem halb abgetragenen Aktenberg im vergangenen Februar - nach der bundesrätlichen Ordner-Vernichtungsaktion - hat überneh¬men müssen, bestätigt indes die «offensichtlichen Löcher» in den Tinner-Unterlagen: «Die Liste der Akten in diesem Fall stimmt nicht mit den tatsächlich vorhandenen Dossiers überein.» Sonst will Müller den Vorfall nicht kommentieren: «Diese Untersuchung geht weiter», versichert, er aber. Aus anderer Quelle ist indes zu vernehmen, von ursprünglich fast 200 vollen Bundesordnern seien in dem Verfahren jetzt nur noch 93 vorhanden.Der «Fall Tinner» begann für die Schweizer Bundesanwaltschaft am 20. Februar 2004 - also vor über vier Jahren. Damals entdeckten Berns Fahnder im Internet eine Meldung der Polizei Malaysias, wonach in dem südostasiatischen Land ein Fall von illegaler Produktion und Handel mit Präzisions-Technologie aufgeflogen sei, die auch zur Herstellung von atombombenfähigem Material verwendet werden könne. In die Sache verwickelt sei mitunter der Schweizer Urs Tinner. Er habe in Malaysia eine Fabrik für Ultrazentrifugen geleitet.
Festnahme in Deutschland. Die Schweizer begannen zu ermitteln. Und Anfang Oktober 2004 wurde der heute 43 jährige Urs Tinner zusammen mit seinem Vater Friedrich und seinem Bruder Marco von den deutschen Behörden festgenommen, die auch an dieser Sache «dran» waren. Am 30. Mai 2005 wurden die Tinners an die Schweiz ausgeliefert. Sie bestreiten bis heute, den wahren Bestimmungsort und den Verwendungszweck der Hochtechnologie gekannt zu haben.Bestimmt waren die Zentrifugen - via Dubai - für Libyen. Das nordafrikanische Land stand damals noch unter einem Atomtechnologie-Bann der UNO. Organisator der illegalen Atom-Proliferation war der «Vater der irakischen Atombombe», Abdul Quadir Khan. Alle drei Tinners sind Ingenieure, und alle drei stehen im Verdacht, seit mehr als zehn Jahren für gutes Geld (gemäß Bundesgericht «ca. Fr. 20 Millionen») dem pakistanischen Atom¬schmuggler Khan bei seinen illegalen Geschäften zugedient zu haben. Heute lässt Libyen internationale Atomkontrolleure ins Land und kauft Atom¬technologie offiziell in Frankreich ein. Der «mitangeschuldigte» Vater, Friedrich Tinner, ist inzwi¬schen wieder auf freiem Fuß. Die beiden Tinnerbrüder Marco und Urs hingegen sitzen nunmehr seit gut dreieinhalb Jahren in Zürich in U-Haft.
Millionenkoffer von der CIA. So lange läuft euch die Strafuntersuchung gegen das Trio, das ur¬sprünglich aus dem St. Galler Rheintal stammt. Da¬bei merkten die Bundesermittler schnell, dass die Tinners ihre Ingenieur-Kompetenz nicht nur für gutes Geld dem Pakistaner Khan angeboten haben dürften, sondern ihre Informationen - mitsamt ih¬rem Auftraggeber Khan - den US-Geheimdiensten regelrecht «verkauft» haben.Seit wann genau die Tinners im Dienste der CIA standen, ist nicht klar. Der «Sonntagszeitung» liegt aber ein Dokument vor, das zeigt, wie die CIA-Agenten James W. Kinsman und Sean D. Mahaffey im 21. Juni 2003 in Jenins (GR) ein «Agreement» (Übereinkunft) mit Marco Tinner unterschrieben haben, das die Informations-Zusammenarbeit der Tinners mit den US-Regierungsstellen regelt. Die Amerikaner schoben den Schweizern dabei «up front» schon mal einen Koffer mit einer Million Dollar als «Gebühr» rüber. Sie sollen ihnen auch Schutz vor Strafverfolgung zugesichert haben.
Schweres Verbrechen. Im Rechtsstaat Schweiz mit seiner unabhängigen Justiz sollte das den Tinners eigentlich wenig nützen: Weil ihnen «Widerhandlung gegen die eidgenössische Güter¬kontroll- und Kriegsmaterialgesetzgebung in ei¬nem schwerwiegenden Fall zur Last gelegt» werde, wies das Bundesgericht am vergangenen 9. Oktober ihr «Haftentlassungsgesuch» denn auch ab. Die mutmaßlichen Taten der Tinners stufte Lausanne damals «als schweres Verbrechen» ein. Da drohten «Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren».Doch die Amerikaner hatten politisch vorgesorgt: Am 26. und 27. Juli 2007 hatten sie den damaligen Schweizer Justiz- und Polizeiminister Christoph Blocher (SVP) nach Washington eingeladen. Er traf sich dort mit dem FBI-Direktor Robert Mueller, mit Geheimdienstkoordinator Mike McConnoll, dem US-Minister für innere Sicherheit, Michael Chertoff, und mit dem US-Justizminister Alberto Gonzales. Mit ihm soll Blocher «unter vier Augen» den Fall Tinner besprochen haben.
Streng geheime Bundesratssitzung. Und sie¬he da: Kaum hatte das Bundesgericht gegen die Freilassung der Tinners entschieden, geschah im Bundesrat Sonderbares. An der Sitzung der Lan¬desregierung vom 14. November 2007 mussten die Bundeskanzlerin und die Vizekanzler auf Antrag Blochers das Zimmer verlassen. Zur Sprache kam danach gemäß Recherchen der Freiburger Zeitung «La Liberté» der «Fall Tinner». Das steht aber auf keiner Traktandenliste und in keinem Protokoll: die Protokollführer waren ja draußen vor der Tür.Fest steht dennoch: Eine Mehrheit der Landesregierung erlaubte Blocher damals die Schaffung einer streng geheimen Arbeitsgruppe unter Leit¬ung seines Direktors des Bundesamtes für Justiz, Michael Leupold. Der hatte seinen Chef im Juli schon nach Washington begleitet. Leupolds «Grup¬pe Reißwolf», wie sie mitunter in den Gängen des Departements sarkastisch genannt wird, stellte ei¬nen «Kriterienkatalog» zusammen. Und nach diesem mussten sämtliche Dokumente aus der Akte Dinner entfernt und vernichtet werden, die Hinweise auf eine Verwicklung der US-Regierung und der CIA in diesen Fall enthielten: Insgesamt fütterte die Gruppe rund 100 volle Ordner - gut die Hälfte des Tinner-Dossiers - in den Aktenvernichter.
Ein Schlag ins Wasser. Und damit nicht genug: Damit die Strafverfolgungsbehörden für die Weiterführung des Verfahrens nicht auf ihre Quellen zurückgreifen konnten, ließ Blocher den Direktor des Strategischen Nachrichtendienstes (SND), Hans Wegmüller, aus dem VBS in sein Departement zitieren: Dem Chef-Agenten wurde ultimativ befohlen, sein Dienst, der in der Sache Tinner gut gearbeitet und viele Beweise zuhanden der Bun¬lesanwaltschaft zusammengetragen hatte, müsse auch dieses gesamte Material restlos vernichten.Und dennoch: Der bundesrätliche Übergriff auf das Verfahren gegen die Atomtech-Schieber und US-Agenten könnte sich als Schlag ins Wasser erweisen. Die meisten vernichteten Dokumente sind aus verschiedenen Nebenverfahren in dem Fall als Kopien nämlich noch vorhanden. Sie können von den unabhängigen Untersuchungsrichtern neu angefordert und zusammen gestellt werden: Sei es vom Bundesstrafgericht in Bellinzona, vom Bundesgericht - oder aber von den deutschen und 15 weiteren ausländischen Untersuchungsbehörden, mit denen die Bundesanwaltschaft in diesem Fall per Rechtshilfe eng zusammenarbeitet.
Granit. Bei diesen Gerichtsbehörden jedoch beißen die Geheimdienste und ihre vorgeschobenen Politiker auf Granit: «Wir verteidigen die rechts¬staatliche Gewaltentrennung», versichert ein Bun¬desrichter: «Der Bundesrat kann uns noch zwanzig Leupolds vorbeischicken - wir geben denen niemals Akten aus laufenden Verfahren heraus!»Pflicht grob verletzt.
Kommentar des baz- RedaktorsNIKLAUS RAMSEYER Die «Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz» ist gemäß Bundesverfassung ein zentraler Auftrag und Pflicht des Bundesrates. Im Fall Tinner jedoch hat unsere Landesregierung im ver¬gangenen November diese Pflicht gröblich verletzt: Auf Geheiß einer fremden Macht, die sich kaum je um die Souveränität kleiner Länder schert, hat der Bundesrat versucht, ein Schweizer Gerichtsverfahren gegen dubiose Agenten zu hintertreiben, die «schwerer Verbrechen» verdächtigt werden. Dass er dabei die Gewaltentrennung klar missachtet hat, macht die Sache umso schlimmer. Gerechtfer¬tigt hat der Bundesrat seinen Kniefall vor der US-Regierung offenbar mit dem schwammi¬gen Artikel 184 der Verfassung, der ihm «Verfügungen» erlaubt, «wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert». Das ist Unfug: Im Fall Tinner hat der Bundesrat die Interessen der Schweiz nicht «gewahrt», son¬dern diese gefährdet. Wenn es sich nämlich herumspricht, dass in Bern Duckmäuser regieren, die sich vor den Karren von Großmächten spannen lassen, kommen bald auch andere auf den Geschmack. Dass Christoph Blocher, der Verfechter der Neutralität und Unabhängigkeit, dabei eine zentrale Rolle spielte, ist peinlich. Und es steht zu hoffen, der neue Bundesrat zeige in Sachen Unabhängigkeit nun mehr Rückgrat.
nrbaz.bern@bluewin.ch

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