Samstag, 3. November 2007

Die Intelligenz des Bösen

Warum sind die Essays von Jean Baudrillard so schwer zu verstehen oder wie viele, auch Fachleute, sagen, überhaupt unverständlich. Jean Baudrillard begibt sich zur Schwelle dessen, was mit dem Alltagsdenken, mit den Alltagsvorstellungen nicht denkbar und nicht fassbar ist. Es ist die Schwelle zu einer parallelen Welt, die laufend performativ (aus der Gesamtheit des Daseins hereinwirkend) in unsere subjektive Art zu sein hineinspielt. Es ist die Welt des uns Unter-, bzw. Überbe­wussten, die laufend in unser Denken, Fühlen und Wollen hineinwirkt und die die Welt des Kalküls durchbricht und unter- oder überläuft.Baudrillard geht von der Welt als Resultat jenes Kalküls im logischen Sinne aus, der als Grundbaustein (Grundzeichen) die Basis für komple­xere Ausdrücke abgibt. Der Kalkül liegt den Regeln der Aussagelogik und den Anfangsregeln, den Axio­men, nach denen die Sprache sich bildet, zu Grunde. Praktische Anwendung finden die Kalküle in der Informatik, auf deren Dualismus (ein – aus, ja – nein) unser Denken reduziert zu werden droht. Gemäß der Sprachphilosophie bildet die Grammatik der Sprache unser Bewusstsein. Jean Baudrillard hat nun das Bedürfnis nach einem «absoluten Fortschritt hin zu einer Verzweigung der einzelligen Lebewe­sen, einer digitalen Aufeinanderfolge und einem automatischen Kalkül, das vor jedem komplexen und analytischen Denken liegt.»[1] Das bedeutet, dass er eine mentale Entsprechung einer Phase sucht, die der Nullpunkt der Zeugung ist, zum Nullpunkt des Denkens vor dem Entstehen der künstlichen Intelligenz führt. In der Tat sucht er nach dem Impuls, der dem Bilden von Gedanken, Begriffen und Vor­stel­lungen vorausgeht. Er fragt nach dem, was die künstliche Intelligenz program­miert und ins Leben gerufen hat. Damit sucht er nach dem Ursprung unseres Bewusstseins, das er als in einer Spiegelwelt hoffnungslos gefangen erlebt. Er spricht von einer «doppelten Illusion: die einer objektiven Realität der Welt, die einer subjektiven Realität des Subjekts, die sich in dem gleichen Spiegel brechen (…)»[2] Es gibt seiner Ansicht nach nicht nur die Illusion eines realen Objekts, es gibt auch die eines realen Subjekts der Repräsentation (Vorstellung) – und die beiden Illusionen, objektive und subjektive Illusion, sind korrelativ. Baudrillard nennt diesen Sachverhalt ein Mysterium. In der Tat beo­bachtet er minutiös, was sich im Spiegel unseres reflexiven All­tags­bewusstseins, unserer Mentalebene II (der Verstandes- und Gemütsseele) abspielt, welcher die Resultate unserer gesamten naturwissenschaftlichen Grundhaltung entspringen. Da­bei ist es bezeichnend, dass er nach einem automatischen Kalkül sucht, das vor je­dem komplexen und analytischen Denken liegt. Er sucht nach dem selbst- und dem weltgestaltenden Prinzip, das er nicht erkennen kann, weil die Vorurteile des so genannt wissenschaftlichen Denkens, trotz der scheinbaren Spontaneität seiner Denk­methode, große Entwicklungs­hemm­nisse vor ihm aufbauen. Er er­kennt nicht, dass er durch seine Art zu denken vor der Schwelle steht, an die ihn sein Denkwille, die Ge­stalt­kraft seines eigenen Denkens geführt hat und er erkennt nicht, dass er diesen Denk­willen er­grei­fen muss, um die Schwelle übertreten zu können. Er erkennt weiter nicht, dass er sich diese Schwelle mit dem iterativen Pa­ra­dox der Illusion des Subjekts in der Illu­sion der Welt, das heißt der ihm von der Außenwelt entgegenkommenden Objekte selber aufbaut. Was sagt Baudrillard, wenn man genauer hinschaut, genauer hindenkt?«(…) Es gibt nicht allein die Illusion eines realen Objektes, es gibt auch die Illusion eines realen Subjekts (…) – und die beiden Illusionen, objektive und subjektive Illusion, sind korrelativ.»Wenn wir auf die Vorder- und Rückseite eines Blattes schreiben: Was auf der Rück­­sei­te des Blattes steht, ist eine Illusion! Dann entspricht dies genau den folgenden Aussagen: Alle Kreter sind Lügner, sagte der Kreter. Oder: Ich lüge jetzt. Wie man sich aus solchen ins Unendliche widersprechenden Aussagen retten kann, ist in Die Informationslücke und in Der entscheidende Zeit-Not-wendige Schritt in aller Ausführlichkeit dargestellt. Hier sei nur das Resultat eines langen und ausführlichen Beweises des Mathematikers Kurt Gödel[3] in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zitiert: «Wichtige logische Systeme, wie Arithmetik und Algebra, müssen immer Aussagen enthalten, die wahr, aber nicht aus einem bestimmten Axiomensystem herleitbar sind, wenn sie lösbar sein sollen.» Diese logi­sche Aussage im Zentrum jeglichen Systems wird in der Physik Informationslücke ge­nannt. Man kann den Einwand machen, dass in der Wissenschaft Annahmen gemacht werden können, nicht zwangsläufig wahr sein müssen. Sie sind aber stets das Fundament, auf dem alles weitere aufgebaut wird. Sobald die Annahmen widerlegt werden können, bricht alles zusammen. Die Wissenschaft postuliert, dass die Annahmen empirisch überprüfbar sein müssen. Dieses Postulat selbst kann aber nicht überprüft werden, sondern basiert auf Vereinbarung. Diese ist nicht mehr und nicht weniger als eine Spielregel für das »Spiel«, das sich Wissenschaft nennt. Da sich bewusstseins- und formbildende Kräfte nicht aus der Materie erklären lassen, schließt der Geist diese Informations- bzw. Erklärungslücke. Die Geistrealität setzt sich den empirischen Daten keineswegs entgegen, vielmehr ist der grundlegende Wirkungs- und Erklärungszusammenhang im Welt- und Menschenbild dadurch ein deutlich anderer. Die Finger in die Wunde legen heißt die Frage nach dem Sinn stellen. Und hier beginnt das eigentlich Glatteis, um welches die Naturwissenschaft einen eleganten Bogen macht. Diesen Bogen hat der Philosoph Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft offenbar für alle Zeiten gerechtfertigt.Die Wirklichkeit der wahren Aussage ist aber keine Informationslücke, wenn man das System von außen betrachten kann. Sich aus der Spiegel­welt der Unwirk­lichkeiten und Illusionen herauszuheben ist möglich, dadurch dass man durch den Denk­­willen seinen Kör­per erst erkennen kann, wenn man ihn gedanklich als Subjekt bestimmt und ihn so den Objek­ten, die man ebenfalls durch den Denkwillen ge­dank­lich bestimmt, ge­­gen­­überstellt. Damit haben wir den Freiheitspunkt jeglicher Be­wusstseinsentwicklung überhaupt erkannt. Dieser kann nicht gedanklich wider­legt, sondern nur emotional intellektuell abgeleugnet werden. Ohne das Schwel­lenerlebnis des iterativen Paradoxons, das den Menschen unlösbar und hoffnungslos mit dem System verkettet, kann nicht zum Bewusstsein des Denkwillens vorge­schritten werden.Wenn Baudrillard nach dem automatischen Kalkül sucht, das vor jedem komp­lexen und analytischen Denken liegt, dann bewegt er sich genau in diesem Bereich. In den Büchern "Der entscheidende Zeit-Not-wendige Schritt" (F. Frey, Grin-Verlag München, 2006) und in "Wut, Chaos und Zerstörung" (F. Frey, Grin-Verlag München, 2007) wird dargestellt, dass dieses Zentrum die Logik des Systems an sich ist. Das ist die Selbstgestaltungskraft des Systems, der Logos. Diesen haben wir als den Weltgestaltungswillen, der sich im System entäußert und damit eben nicht metaphysisch, sondern in seiner Erschei­nungs­weise in andersartiger Gleichheit identisch und damit erkennbar ist. Er er­scheint als die alle Verhältnisse gestaltende Kraft und ist eben nicht dualistisch-transzendent, damit können wir mit Wittgenstein sagen: «Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. »Ein Sachverhalt ist denkbar« heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen. (…) Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich. Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten. Man sagte einmal, dass Gott alles schaffen könne, nur nichts, was den logischen Gesetzen zuwider wäre. – Wir könnten nämlich von einer »unlogischen« Welt nicht sagen wie sie aussähe. Etwas »der Logik widersprechendes« in der Sprache darstellen, kann man ebenso wenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen; oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert.»Im Ergreifen der Gestaltkraft des Denkwillens, individualisieren wir die alle Verhältnisse gestaltende Kraft des Logos. Wir erkennen die Idee in der Wirklichkeit und verwirklichen die Idee in die Wahrnehmbarkeit durch die Sinne oder in die Wahr­nehmbarkeit durch das Denken hinein, welches das Organ der Wahrnehmung von den Ideen ist. Dies ist keine Transzendenz. Es ist unbegreiflich davon zu sprechen, dass Ideen transzendental sein sollen, da sie ja durch das Denken ebenso beobachtbar sind, wie der Baum durch das Auge und der Ton durch das Ohr.Im Denkwillen könnte Baudrillard den Kalkül finden, der allen Kalkülen zu Grunde liegt. Aber dieser Kalkül taucht nicht automatisch auf. Er ist nur zu haben, wenn wir ihn im Tun hervorbringen. Deshalb ist alles Erkennen ein schöpferischer Akt. Wir schaffen die Wahrheit in der Erkenntnis. Sie ist uns nicht automatisch gegeben. Ist unsere Erkenntnis nicht wahr, so ist sie keine Erkenntnis. Der Irrtum wird korrigiert durch den Logos in der Welt und im Menschen. Wenn dieser Kalkül automatisch auftauchen würde und nicht durch den schmerz­haften Geburtsvorgang des Schwellenübertrittes zum Erleben des Denkwil­lens, dann wäre er so gegeben, wie die übrige Welt auch. Dadurch würde die Ent­wicklung stag­­nieren oder wie Baudrillard in seiner Schrift »Die Intelligenz des Bösen« zeigt, in die Dekadenz der Banalität versinken. Wenn die Erkenntnis- und Erfah­rungs­wirklichkeit des Denkwillens automatisch auftreten würden, dann wäre sie entwick­lung­shemmend und dadurch böse. In der künstlichen Intelligenz erkennen wir den Logos durch die Kalküle zu Tode gemartert und erstorben, maschinell automatisiert. Der Ausdruck »künstliche Intelligenz« übt eine gewisse Faszination aus, ist aber nichts weiter als ein programmiertes und zumeist datenbank­gestütztes System von Methoden, welche entsprechend vorgeschlagen werden, wenn ein Ereignis unter Umständen eintritt. Das System der künstlichen Intelligenz übernimmt die Rolle eines Experten, dessen Wissen hinterlegt wurde. D.h. dieses System kann niemals über dasjenige hinauswachsen, was hinterlegt wurde. Um den Logos brauchen wir uns deswegen nicht mehr, aber auch nicht weniger Sorgen zu machen. Erkenntnis des Logos und Umgang mit dieser Erkenntnis liegen da, wo sie immer liegen: in der Verantwortung des Menschen.Baudrillard spricht über die Intelligenz des Bö­sen: «Bei der Intelligenz des Bösen muss man begreifen, dass es das Böse ist, das intelligent ist, welches uns denkt – in dem Sinne, dass es automatisch in unser Handeln impliziert ist. Denn es ist nicht möglich, dass eine Handlung oder eine Sprache, gleich welche es sei, nicht über ein Doppelgesicht, eine Rückseite und folg­lich eine duale Existenz verfügen. Und dies gegen jede Finalität oder objektive Ausrichtung. Diese duale Form ist unüberwindbar, von jeglicher Existenz unabtrennbar, und folglich ist es vergebens, sie verorten oder, mehr noch, sie an­pran­­gern zu wollen.»Das Bedürfnis Baudrillards nach dem vor allem komplexen und analytischen Den­ken automatisch auftretenden Kalkül zeigt seinen Willen nach der Erkenntnis des Bösen, welches er stets im Schlepptau des Guten sieht und umgekehrt. Das Eine wur­zelt im Anderen und gerade dadurch ist es möglich, dass Evolution stattfindet. Die Bewusstwerdung des Denkwillens ist unmöglich ohne die Erkenntnis der Wirk­kraft des Bösen im Sinne von Goethes Faust: «Ich bin ein Teil von jener Kraft die stets das Böse will und stets das Gute schafft.»Böse in diesem Sinne sind die evolutionshemmenden Kräfte, die uns den Denk­wil­len nicht zu Bewusstsein kommen lassen wollen. Diese aber deswegen an­zupran­gern, wäre im Sinne Baudrillards gerade das Verkehrte, weil, nun in unse­rem Sinne, gerade diese Widersacherkräfte uns es ermöglichen, den Denkwillen besonders stark aus­zubil­den.
[1] Baudrillard, Jean: Die Intelligenz des Bösen. Wien 2006. S. 156.
[2] Ebenda: S. 30.
[3] Frey, Fritz: Die Informationslücke. München 2006. S. 13

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