Sonntag, 11. November 2007

Quo vadis, Europa?

«Es ist an der Zeit», so spricht der alte mit der Lampe im »Märchen« Goethes, das von der grünen Schlange und der schönen Lilie handelt. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst, als eines geistig schöpferischen Wesens, entwickeln muss. Die Erkenntnis, dass das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen Werkzeuge sind, die er bewusst zu seiner Entwicklung schulen, fördern und einsetzen soll, wird durch Goethe angesprochen. Dass der Mensch diese Qualitäten aus freiem Willen gleichmäßig und harmonisch ausbilden kann, so dass sein Ichbewusstsein als harmonisierende Kraft sich in der Sozietät in wirklich menschlicher und unabhängiger Art und Weise verwirklicht, wird in rätselhaften Imaginationen vor das noch schlafende Bewusstsein der mitteleuropäischen Menschheit hingestellt. Die Bilder wurden noch nicht und werden auch heute noch nicht in ihrer ganzen Tragweite verstanden. Der entsprechende Gedanke Pestalozzis von der harmonischen Ausbildung von Kopf, Herz und Hand wirkte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch in den Lehrplänen der staatlichen und vieler privaten Schulen nach. Die Idee, dass im Menschen ein göttlicher Funke wirkt, der als Kraft, welche das Ich-Bewusstseins schafft, gepflegt sein will, war den meisten der maßgebenden Denker jener Zeit gemeinsam. Dass solche Bildung des Menschen zu einem freien und unabhängigen Wesen, das als mündiger Mensch in der Gesellschaft stehen und auch in Freiheit seinen persönlichen Bezug zum Geiste entwickeln kann oder dies aus Freiheit auch unterlassen kann, musste die Institutionen alarmieren.Es war die Aristokratie, die fürchtete, ihren Einfluss, der über Jahrhunderte allein durch Vererbung von Amt und Würde aufrechterhalten wurde, weiter zu verlieren. Wobei sichtlich die Fähigkeiten der Adeligen mehr und mehr hinter Amt und Würde nachhinkten. Es war die Kirche, die sich um den schwindenden Einfluss des dogmatischen Glaubens bei ihren Schäfchen sorgte und es war der neu aufkommende Finanzadel, der im richtig verstandenen Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seine aufkommende Vorherrschaft über den Menschen gefährdet sah.Nichts liegt näher, als dass sich diese drei Machtströmungen, nämlich die des Geisteslebens (Kirche), die des Rechts- und Staatslebens (Aristokratie) und die des aufkommenden und alles zu beherrschen trachtenden Wirtschaftslebens (Finanz-Aristokratie) ein gemeinsames Interesse entwickelten: Die Freiheit im Geistesleben, die Gleichheit im Rechts- und Staatsleben sollten ebenso verhindert werden, wie die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Es musste ausgeschlossen werden, dass die humanistischen Gedanken einer wahren Demokratie verwirklicht werden konnten. Denn eine wirkliche Demokratie, in welcher der Mensch als freies Wesen seine Ideenfähigkeit unzensiert und frei in den Dienst der Gesellschaft stellen konnte, würde die freie Entfaltung der Persönlichkeit erfordern. Dies konnte nur dadurch verhindert werden, dass die Schulen entweder dem Staate oder der Kirche unterstellt wurden. Theoretisch war und ist es auch heute noch möglich, freie Schulen zu gründen und zu führen. Dies wird aber zu einem finanziellen Hochseilakt, was bedeutet, dass dabei die Gefahr der Abhängigkeit von den Finanzmächtigen entsteht und die »freie« Schule nach den Bedürfnissen der Wirtschaft funktionieren soll, also alles andere als frei ist.Die Gleichheit im Bereiche des Rechtslebens hätte bedeutet, dass die Privilegien der Aristokraten und der Finanzaristokraten aufgehört hätten zu existieren. Das konnte nur dadurch verhindert werden, dass die Gewaltentrennung unterlaufen wurde. Anstatt dass die freie Ideenfähigkeit der Richter ausgebildet wurde, wurden sie nach altem römischem Rechtsverständnis auf staatlich finanzierten Universitäten instruiert. Die Richterämter wurden in der nach und nach zum Demokratismus entarteten Demokratie nach Parteienzugehörigkeit ausgehandelt. Es gibt den freien Richter nicht mehr, wenn es ihn vielleicht zu Beginn der Phase der Demokratie auch gegeben haben mag. Die Verflechtung oder wie heute das Schlagwort sagt, die Verfilzung in der Demokratie hat seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein ebensolches Maß angenommen wie dies in den Kaiser- und Königshäusern seit Jahrhunderten der Fall war, was das Volk gegen diese empörte.Darüber, dass die Wirtschaft, sei es die Nationalökonomie als nationaler Egoismus oder die globalisierte Wirtschaft (als unbegrenzter Egoismus der weltweit verflochtenen Finanzinteressen der globalen Finanzaristokratie), die ihren Ausgangspunkt im Beginn der Ausbeutung der Kolonien hat, die Forderung nach der Brüderlichkeit erfüllt, muss nicht lange nachgedacht werden. Das soziale Elend und der Hunger sind selbst in den reichen Staaten Antwort genug, es wird immer augenfälliger, dass ein kleiner Teil der Menschheit über einen großen Teil derselben schamlos verfügt.Goethe hat es den Alten mit der Lampe aussprechen lassen und Schiller hat es in seinen Schriften dargestellt, dass nur die freie Entwicklung des Menschen im oben dargestellten Sinne für die Menschheit segensreich sein kann. Goethes Glück war es vielleicht, dass seine rätselhaften Bilder nicht verstanden wurden. Schiller, der seine Ideen in gedankenklarer Schärfe dem Intellekt zugänglich machte, kam auf jeden Fall unter mysteriösen Umständen ums Leben. Dabei mochte man in den angesprochenen Kreisen weder seine freiheitlichen Schriften wie den »Wilhelm Tell«, noch seine klaren Darstellungen vom Wesen des Menschen in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, da sie den Menschen zur inneren und äußeren Freiheit aufriefen und auch heute noch aufrufen. Zur Zeit des Nationalsozialismus bereiteten Goethe und Schiller den Machthabern erhebliche Probleme. Sie wurden von »wissenschaftlichen Kommissionen« in dem Sinne bearbeitet, dass sie »volksverträglich« wurden. Besonders Schiller, der durch seine intellektuelle Klarheit bestach, wurde zu einer führergleichen Figur hochstilisiert und missbraucht. Mit Goethe war dies schwieriger, da der Einstieg in die Lebendigkeit seiner Art des bildhaften Denkens den nationalsozialistischen Bearbeitern aus verständlichen Gründen schwer möglich war.Bis heute wird nicht zur Kenntnis genommen, dass Goethes Imaginationen im Märchen wegweisende Ideen für die Entwicklung der europäischen Gesellschaft sind. Die Verfilzung von unfreiem Geistesleben, Lobby-bestimmtem Rechtsleben und sich überall einmischendem profitgierigem Wirtschaftsleben wird ebenso im gemischten König des Märchens dargestellt, wie das chaotisierte menschliche Seelenleben, welches den Menschen hilflos den Ereignissen in der Welt gegenüber stehen lässt. Das Chaos des gesellschaftlichen Lebens, die Verfilzung des Wirtschaftslebens mit der Politik und das Hineinwirken der religiösen Machtanwartschaft ist nach wie vor Gesellschaftsbestimmend. Ebenso wie Schiller und Goethe in ihren wirklichen, der Gesellschaft Wege weisenden, Aussagen bis heute ignoriert werden, so wird die Idee der gesellschaftlichen Strukturierung, die Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Schiller und Goethe anschließend, erarbeitete, ignoriert. Dieser zeigte deutlich auf, wohin die undifferenzierte Vermischung von Recht, Wirtschaft und unfreiem Geistesleben führen musste. Das Nichtergreifen seiner Ideen nach dem Ersten Weltkrieg hat Europa direkt in den Zweiten Weltkrieg geführt und von den USA abhängig gemacht.Wie sich im Verlauf der Geschichte das Geistesleben, beginnend mit dem Griechentum aus dem Einflussbereich der Theokratie befreit hat, so hat sich das Rechtsleben in der Entwicklung der Bürgerrechte im Römertum daraus befreit. Mit dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit hat sich auch das Wirtschaftsleben aus der Abhängigkeit von Klerus und/oder Adel befreit. Wenn ein kirchlicher oder weltlicher Staat über diese drei Bereiche künstlich die Kontrolle aufrechterhalten will, dann gerät er mit seinen Bürgern automatisch in Konflikt. Denn der Staat hat einzig in Bezug auf die Gleichheit des Rechtes, die Wahrung der Menschenrechte und den Schutz der Bürger vor Übergriffen auf deren Integrität das Sagen. Die Bewusstseinsentwicklung macht aber nicht halt vor dem Willen der Mächtigen. Will ein Staat diese unabhängig gewordenen Bereiche kontrollieren, dann ist seine Ideologie realitätsfremd geworden. Wenn eine realitätsfremde Ideologie durchgesetzt werden will, geht dies nur durch die Mittel der Gewalt.Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben müssen entfilzt werden, wenn es denn zu einer menschengerechten Entwicklung der Gesellschaft kommen soll. Gelingt dies nicht, wird die Entwicklung zur Eine-Welt-Regierung der totalen Kontrolle, wie sie heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts,mit der Argumentation der Terrorbekämpfung in der Tendenz liegt, verwirklicht. Ihre Richtung nahm diese Entwicklung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Der erste und der zweite Weltkrieg sind nur die logische Folge der Entwicklung einer Idee zur Hegemonie einer Elite, deren Ziel die Beherrschung der Welt und des Menschen ist. Diese Hegemoniebestrebungen haben ihren Anfang schon früh mit dem Aufbau der Kolonialreiche genommen.Europa hat die Chance, sich auf seine echten eigenen Werte zu besinnen und aus dieser Eigenkraft heraus ein föderatives, entfilztes Staatensystem zu entwickeln, wenn die Menschen in Europa aufwachen und erkennen, dass Europa nicht einfach ein billiges Anhängsel der USA bildet.

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