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Die Frage nach dem „alten“ und dem „neuen Europa“ ist spätestens im Vorfeld des dritten Golfkrieges (Krieg gegen den Irak, 2003) aktuell geworden. Wer sich nicht vorher schon Gedanken darüber gemacht hat, wie die Vergangenheit Europas in einem Verhältnis zu seiner Zukunft betrachtet werden kann, konnte durch diese Bemerkung Donald Rumsfelds aufgeweckt werden. Keineswegs klar ist es jedoch, was er mit seiner Äußerung unter „altem Europa“ und unter „neuem Europa“ zu jenem Zeitpunkt verstand und was er damit sagen wollte. Er konnte damit bestimmt nicht das kriegerische Europa zu Beginn und zum Ende des 19. und jenes vor den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gemeint haben, denn dieses Europa hätte sich wohl seinen Macht- und Hegemoniebestrebungen kriegerisch gegenübergestellt, was in unserer Zeit undenkbar ist. Er kann auch nicht das Europa des kalten Krieges gemeint haben, das in ständiger Bedrohung durch die Supermacht UdSSR froh und dankbar war für den Atomschirm, den die USA über Westeuropa hielten. Denn dieses Europa war den USA dadurch ebenso verpflichtet, wie durch den wirtschaftlichen Aufbauplan nach dem zweiten Weltkrieg (Marshallplan). Wer sich länger darüber Gedanken macht, kommt darauf, dass er das Europa der Gleichgewichte gemeint haben könnte, das Europa der Kunst der Vermittlung zwischen Staaten, die durch sich widersprechende Interessen in Konflikt geraten. Das Europa der Diplomatie, das nach dem Wienerkogress im 19. Jahrhundert doch für kurze Zeit eine friedliche Entwicklung zwischen den sich bildenden Nationalstaaten ermöglichte. Nehmen wir an, er machte sich über diese Art von „altem Europa“ lustig und er lobte das „neue Europa“ der Mitmacher beim Irak-Krieg als jenes Europa, welches den USA und ihrem Hegemoniebestreben kritiklos und hörig nachfolgt. Es war ein merkwürdiger Augenblick der Geschichte, als ersichtlich wurde, auf welche Art allen voran Großbritannien, dann Italien, Spanien, Polen, Portugal, Albanien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Georgien, Island, Lettland, Litauen, Mazedonien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik, die Ukraine und Ungarn als europäische Länder in die sog. „Koalition der Willigen“ eintraten. Und dies zum großen Teil entgegen dem Willen der jeweiligen Bevölkerung. Es ist dies ein seltsames historisches Phänomen, das zeigt, wie die USA auf diese Art den Willen der UNO unterlaufen konnten und sich damit die Legitimation zum Präventivkrieg gegen den Irak selber gaben.
Das „neue Europa“ das an der Koalition der Willigen teilhatte, sah sich nach dem zwischenzeitlichen Erfolg des „Sieges“ gegen den Irak in seiner Haltung bestätigt. Aber das Erwachen zur Selbstbesinnung und damit zum Verlassen dieser fragwürdigen Koalition kam bald, als sich der Krieg mehr und mehr in die Länge zog. Wer vermag es, heute das Ende dieses Krieges und des Elendes im Irak abzusehen.
Durch den Verlauf der Kriege im Irak und in Afghanistan und durch das Durchsickern der wirklichen Hintergründe, die zu diesen Kriegen geführt haben, wurde erreicht, dass der Vorwand, sich des Terrors entledigen zu wollen, sich immer mehr als strategische Planung zur Hegemonie im Nahen Osten und in Zentralasien entpuppte.
Welche Rolle spielen aber dabei das „alte“ und das „neue Europa“? Welches Europa wird sich zu einer Kraft entwickeln, zu einem wirklich neuen Europa, welches nicht in einer Koalition der Willigen einer weltweiten Führungsmacht gehorsam zu folgen hat? Wird es ein Europa sein, das die Menschenrechte nicht der gerade herrschenden politischen „guten Ordnung“ entsprechend anpasst und Entführungen von Verdächtigen in geheime CIA-Gefängnisse zulässt und auch unter der suggerierten Angst vor dem provozierten Terror auch mal ein „bisschen“ foltern lässt, wie dies die weltweit einzige Supermacht USA praktiziert. Diese Fragen wollen der Möglichkeit eines selbständigen Europas und dessen Rolle, die es im weltweiten Kräftespiel einnehmen könnte, nachgehen.
Es soll, gegeben durch die historischen Phänome, auch untersucht werden, ob es nicht Gesetzmäßigkeiten der sozialen und staatlichen Entwicklung gibt, die berücksichtigt sein wollen, wenn man von einer gesunden gesellschaftlichen Evolution sprechen will. Dies soll unter drei Aspekten geschehen:
- Individualisierung und Emanzipation des Menschen.
- Notwendige Grundlagen zum sozialen Zusammenleben.
- Größtmögliches Wohl einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen
innerhalb von staatlichen Gebilden.
Der Begriff „altes Europa“ kann dann nicht mehr in der Form gebraucht werden wie oben charakterisiert. Unter dem „alten Europa“ wird die geschichtliche Entwicklung bis zur Französischen Revolution Ende des 18. und zur Industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dem, mit dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges vollendeten, totalen Umbruch der Geschichte Europas verstanden. Das ist der Zeitpunkt, zu welchem die USA in die Geschicke Europas eingriffen. Dieser Umbruch hält bis heute an. Der Blick in die Zukunft betrifft ein Europa, das seine vollständige Eigenständigkeit und seinen Gleichgewichtscharakter zwischen Ost und West erkennt und ihn als Aufgabe in der Geschichtsentwicklung begreift. Die Hegemoniebestrebungen einer Macht wie der USA, die von einer bestimmten Elite geführt wird, können der Vielfalt der Menschheit nicht gerecht werden. Das künftige Europa hat die Aufgabe, diese Vielfalt in ihrer Bedeutung bewusst zu machen, zu pflegen und zu zeigen, dass nicht die weltweite Gleichschaltung durch die im Demokratismus erstarrte Demokratie, die global durchgesetzt werden soll, die Lösung sein kann.